Liora Uferstein

Liora Uferstein

Das Mädchen vom Silbersee

Am stillen Ufer des Silbersees, wo der Nebel morgens wie ein leises Geheimnis über das Wasser kriecht, stand ein kleines Fischerhaus. Es war einfach gebaut, aus grauen Holzbrettern, die vom Regen gezeichnet waren, und mit einem Dach, das die Sonne im Sommer goldbraun schimmern ließ. Hier lebte die Familie Uferstein: der Vater, der frühmorgens mit seinem Boot hinausfuhr, um die Netze einzuholen; die Mutter, die Fische säuberte, Brot buk und das Haus in Ordnung hielt; und Liora, die Tochter, die schon von Geburt an anders war als die meisten Kinder im Dorf.

Liora trug auf beiden Händen ein Mal, groß wie ihre Handflächen, geformt wie fallende Wassertropfen. Ein Zeichen, das von den Dorfbewohnern still beäugt wurde. „Das Mädchen vom See“, murmelten sie, wenn sie vorbeiging, mit einer Mischung aus Neugier und Respekt. Doch Liora selbst betrachtete ihre Hände meist nur mit Verwunderung. Sie verstand nicht, was dieses Zeichen bedeutete – und dass es sie einmal zu etwas Größerem führen würde, als sie sich jemals hätte vorstellen können.

Schon als kleines Kind hatte Liora Visionen. Oft saß sie am Ufer, die Beine im kühlen Wasser baumelnd, und sah in die Wellen, die mehr zu zeigen schienen als nur ihr Spiegelbild. Sie sah ferne Wälder, in denen sich das Licht auf seltsame Weise brach, und Wesen, die zwischen den Bäumen huschten, so flüchtig, dass sie sich immer wieder fragte, ob sie nur träumte. Manchmal hörte sie Stimmen, flüsternd, leise, die sie warnen oder führen wollten. Doch sie konnte niemandem davon erzählen; wer würde schon einem Mädchen glauben, das von Dingen sprach, die noch kein Mensch gesehen hatte?

Mit der Zeit bemerkte sie, dass ihre Hände mehr vermochten, als nur Wasser zu berühren. Kleine Kratzer heilten unter ihren Fingern, Pflanzen wuchsen schneller, und manchmal, wenn jemand krank war, spürte sie einen warmen Strom durch ihren Körper fließen – doch sie konnte diese Gabe nie bewusst steuern. Oft war sie erschrocken über ihre eigene Macht, frustriert über das Chaos, das sie unbeabsichtigt verursachte.

Die Ufersteins liebten ihre Tochter innig, doch sie verstanden nicht alles an ihr. Die Mutter legte ihr abends die Hand auf die Stirn, sprach beruhigende Worte, während Liora von ihren Visionen erzählte. Der Vater nickte schweigend, seine Hände stets nach Arbeit riechend, und sah, dass sie besonders war, auch wenn er nicht wusste, wie sehr. Sie lebte in der einfachen Ordnung des Fischeralltags, zwischen Netzen, Booten und dem Rhythmus des Sees, während in ihr eine Macht wuchs, deren Umfang sie selbst noch nicht erahnen konnte.

Liora wusste nicht, dass sie das Siegel der Bindung trug, dass sie die sechste Heldin war, die irgendwann das Gleichgewicht von Mydor bewahren würde. Für sie war das Leben noch klein, begrenzt auf das Rauschen der Wellen, das Schlagen der Möwenflügel und den Duft von nassem Holz nach einem Sommerregen. Doch das Schicksal, das in ihrem Blut lag, begann leise, unaufhaltsam, seine Fäden um sie zu ziehen.

Und so lebte Liora Uferstein weiter – ein Mädchen vom Silbersee, still und unscheinbar für die Welt, mit Händen, die Wunden heilen und Visionen tragen konnten, ohne dass sie verstand, welche Kraft in ihnen wohnte. Niemand im Dorf wusste, dass eines Tages genau dieses Mädchen Mydor retten würde. Bis dahin war sie einfach Liora: Tochter, Träumerin, Kind des Wassers und des Nebels, deren Herz bereits für Größeres bestimmt war


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