Der Westwald
Die Undurchdringliche Grüne Tiefe
Man sagt, der Westwald beginne nicht dort, wo die ersten Bäume stehen, sondern dort, wo das Licht zögert, die Erde weicher wird und die Stille zu lauschen scheint. Wer seine Grenze betritt, lässt mehr zurück als nur den Staub der Steppe – er tritt in ein Reich, das älter ist als Mydor selbst.
Hier ist jeder Schatten ein Wächter, jedes Blatt ein Beobachter. Die Pfade wechseln wie Atemzüge, und wer sich nicht vom Wald führen lässt, sondern glaubt, ihn führen zu können, der wird ihn niemals durchqueren.
Die Lichtung des Mutterbaumes
Im Herzen des Westwaldes, dort, wo kein Wanderer zufällig gelangt, öffnet sich der Wald plötzlich – nicht als Schwäche, sondern als Offenbarung.
Eine weite, stille Lichtung.
Gras, das im Dämmerlicht silbern schimmert.
Und in der Mitte der Mutterbaum.
Er ist kein Baum – er ist der erste Baum.
Seine Krone verschwindet im Himmel, seine Wurzeln umschlingen einen uralten Felsen wie schützende Arme. Und direkt unter diesem Felsen quillt die Urquelle, das heiligste Wasser Mydors.
Aus einem einzigen klaren Tropfen, der nie versiegt, speisen sich alle Flüsse des Landes. Sie alle tragen das Wasser dieses Ortes in sich.
Wenn man am Rand der Lichtung steht, hört man ein tiefes, warmes Summen.
Manche nennen es Wind.
es ist aber der Atem des Waldes.
Die Nebelkluft – Am Rand Nar’Moraths
Im Nordwesten, dort, wo die Schatten der Dornenberge lang und grau in den Wald greifen, liegt die Nebelkluft. Sie ist kein Tal, kein Graben, eher ein verwundeter Riss im Land, aus dem beständig silbrige Schwaden quellen.
Der Boden dort ist kalt, die Luft schmeckt nach Eisen.
Die Tiere meiden die Kluft, und selbst die Ältesten unter uns setzen keinen Fuß in die Nebelschwaden, wenn die Sonne darunter steht.
Man erzählt, die Nebel seien die letzten Ausläufer eines alten Seelensturms aus Nar’Morath – ein Überbleibsel jener Zeiten, in denen die Berge selbst noch lebten und wüteten.
Wer den Nebel betritt, hört Stimmen.
Wer ihn verlässt, schweigt für immer.
Doch trotz all dieser Warnungen ist die Kluft wichtig:
Sie ist ein Grenzort, ein Bollwerk, ein stiller Puffer zwischen dem wilden Zorn Nar’Moraths und der sanften Macht des Mutterbaumes.
Der Westwald – ein lebendes Reich
Der Wald ist undurchdringlich, ja.
Aber nicht, weil er verschlossen wäre.
Sondern weil er lebendig ist – und selbst entscheidet, wen er einlässt.
Bäume biegen ihre Äste zu Toren oder zu Warnungen.
Flüsse ändern ihr Flüstern, wenn Gefahr naht.
Und manchmal, in seltenen heiligen Nächten, sieht man Lichter zwischen den Stämmen tanzen – mal freundlich, mal prüfend, mal uralt und fern jeglicher menschlicher Bedeutung.
Wir, die Hüter des Waldordens, wachen darüber, dass niemand den Wald verletzt und dass jene, die ihn betreten, seine Gesetze kennen:
Nimm nur, was dir gegeben wird.
Geh nur, wohin dich der Wald führt.
Und störe niemals die Stille der Lichtung.
Denn dort, wo die Urquelle fließt, schlägt Mydors erstes Herz.
Und solange dieses Herz schlägt, lebt die Welt.
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