Die Schatten der Nebelkluft

Tirius von Westwald

Die Schatten der Nebelkluft

 

Der Pfad zur Nebelkluft war kein Weg im klassischen Sinn. Er war eine Wunde im Westwald – ein Riss, aus dem ständig fahle Nebel strömten, der scharf wie Glas roch und nach Unheil schmeckte.

Tirius zog seinen Mantel enger. Schon der Atem der Klüfte war schwer.
Doch der Mutterbaum hatte ihn gesandt.
Und der Wald schwieg nicht ohne Grund.

Der Schritt ins Grauen

Je näher er kam, desto ruhiger wurde der Wald. Kein Vogel, kein Rascheln, keine vertrauten Stimmen der Natur. Nur Nebel.
Nebel und Schatten.

Tirius kniete an einem abgestorbenen Stamm, legte die Hand auf die Erde – doch sie sprach nicht.
Es war, als wäre der Boden hier taub geworden.

Dann sah er es.

Bewegung.
Erst kaum wahrnehmbar.
Dann deutlicher: Schemen, die sich im Nebel bogen wie zerbrochene Gestalten. Arme zu lang, Beine zu dünn, Körper wie aus Rauch, aber mit Augen, die brannten wie kalte Glut.

Tirius’ Herz hämmerte.
Diese Formen… sie waren kein Teil des Waldes. Keine Geister, keine Naturwesen.
Sie waren etwas anderes.
Etwas Verlorenes.

„Was seid ihr…?“, flüsterte er.

Die Schemen hielten abrupt inne.
Viele Augen richteten sich auf ihn.

Und dann schrien sie.

Ein durchdringender, verzerrter Laut, der wie ein verhallender Todesschrei klang.

Die Verfolgungsjagd beginnt

Tirius drehte sich um – und rannte.

Der Nebel wirbelte auf, als die Schemen losstürmten. Sie glitten nicht, sie sprangen, mit ruckartigen Bewegungen, als wären sie Marionetten an unsichtbaren Fäden.

Der Hüter hetzte über Wurzeln, sprang über klaffende Spalten.
Hinter ihm krachten Schatten gegen Bäume und versetzten den Nebel in wirbelnde Spiralen.

„Der Pfad! Ich muss zurück zum Pfad!“

Doch die Nebelkluft besaß keine Gnade. Das Terrain änderte sich wie lebendig – Hügel, die vor Sekunden noch nicht da waren, Abhänge, die sich öffneten wie Mäuler.

Ein Schemen packte seinen Mantel.
Der Stoff riss.
Tirius stolperte, rollte über feuchten Boden und spürte den brennenden Griff einer Schattenhand an seinem Stiefel.

Mit einem verzweifelten Tritt befreite er sich, sprang hoch – und rannte weiter.

Ein markerschütternder Laut.
Die Schemen wurden schneller.

An der Grenze

Der Nebel wurde heller – ein Zeichen.
Die Grenze der Kluft.
Der erste Hauch des Waldes.

Tirius spürte, wie die Luft wieder zu vibrieren begann, wie die Stimmen der Natur ihn erreichten.
Er hob die Hand.
Das goldene Siegel des Mutterbaumes flackerte.

Ein unsichtbarer Druck ging von ihm aus, wie ein ringendes Aufbäumen der Naturkraft selbst.
Die Schemen stutzten, verzogen sich, ihre Formen rissen auseinander wie Rauch im Wind – aber sie verschwanden nicht.

Mit letzter Kraft sprang Tirius aus der Nebelkluft, kehrte auf vertrauten Boden zurück – und sank keuchend in Moos.

Er lebte.
Aber die Schatten hatten ihn gesehen.
Und sie würden nicht warten.

Das Gespräch mit der Mutter

Die Lichtung des Mutterbaumes erstrahlte, als spürte sie seine Not.

Tirius kniete schwer atmend nieder.

„Mutter… die Nebel… Sie haben eine eigene Brut. Schatten, die sich erheben.“

Der riesige Stamm vibrierte, Lichtbahnen zogen sich über die Rinde.
Eine Stimme formte sich – warm, uralt, bedrückt.

„Diese Wesen sind die Vergessenen der Tiefe, gebunden an Nar Morths Willen. Sie suchen einen Riss im Schleier.“

Tirius spürte Besorgnis in der Stimme des Baumes. Ein seltenes Gefühl.

„Mein Kind… du musst reisen.
Nicht weiter nach Norden.“

Eine Windböe fuhr durch die Lichtung.

„Sondern in den Südwesten.
Zu den Nymphen des Silberstroms.
Sie bewahren das Wissen des alten Waldordens – auch über die Schatten, die einst schon einmal kamen.“

Tirius blickte überrascht auf. Die Nymphen waren scheu. Und mächtig.
Aber wenn der Mutterbaum ihn schickte, dann gab es keine Wahl.

„Ich werde gehen. Sofort.“

„Beeile dich.“

Der Mutterbaum neigte seine Krone.
Das Licht in den Wurzeln pulsierte schneller.

„Denn diesmal ist der Schatten schneller als zuvor.“

Der Aufbruch

Tirius erhob sich, seine Hand bebte noch vom goldenen Siegel.
Die Erinnerung an die Schemen brannte in ihm.
Ihr Schrei.
Ihr Griff.
Ihre unnatürliche Geschwindigkeit.

Dies war nicht mehr eine einfache Bedrohung.

Dies war ein Vorzeichen.

Er zog den Mantel zurecht, band seine Waffe fester an die Seite und blickte zum Südwesten, wo die Wasser des Silberstroms glitzerten – und die Nymphen warteten.

Dann ging er los.

In den Wald hinein.
Und auf eine Bedrohung zu, die Mydor selbst erzittern ließ.

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