Tharon
und der Kreis aus Stein
Der Morgen brach still über Elenar an. Nebel kroch wie silberne Tücher über das Gras, und die Steppe war erfüllt von jener besonderen Ruhe, die nur in der Stunde vor dem Wind existiert. Tharon bewegte sich fast lautlos, seine Hufe sanken weich in den taufeuchten Boden.
Er kannte diesen Ort.
Er roch den Stein, die Erde, die alten Geister.
Doch lange hatte er ihn nicht betreten.
Vor ihm erhoben sich die Steinkreise von Arvalûn, ein uralter Ort, den die Zentauren ehrten, seit die ersten Hufe Elenars Boden berührten. Zwölf mächtige Felsen aus schwarzem Gestein standen im Kreis, jeder von ihnen mit Runen bedeckt, die der Sand der Jahrhunderte nur teilweise auslöschen konnte.
Tharon hielt an.
Ein Hauch von Erinnerung strich über seine Haut wie kalter Wind.
Hier hatten einst die Ältesten gesprochen.
Hier hatten die Herden ihre Versprechen gegeben.
Und hier… hier war zum letzten Mal die Stimme seines Vaters erklungen.
Langsam trat er in den Kreis. Mit jedem Schritt wurde der Wind leiser, als wolle er lauschen. Die Luft schien schwerer, dichter, erfüllt von einem Echo vergangener Worte. Tharon berührte den ersten Stein und spürte, wie eine feine Schwingung durch seine Hand fuhr.
„Arvalûn“, flüsterte er. „Hüter unserer Geschichten.“
Seine Finger glitten über die alte Rune – die Rune des Weges. Die Ältesten hatten gesagt, sie weise den Zentauren die Richtung, wenn die Steppe schweigt. Doch seit Jahren war sie stumm.
Plötzlich drang ein leiser, tief vibrierender Ton durch die Luft.
Tharon hielt inne.
Der Stein… antwortete.
Ein Licht, kaum mehr als ein matter Schein, kroch langsam in die Rillen der Rune. Unwirklich. Alt. Und doch lebendig.
„Unmöglich…“ murmelte Tharon. „Diese Zeichen sind seit Generationen kalt.“
Er trat einen Schritt zurück. Der Nebel im Kreis begann sich zu bewegen, drehte sich wie Wasser im Wind, formte schemenhafte Gestalten — Zentauren, Schatten aus längst vergangenen Zeiten.
Und dann hörte er eine Stimme.
Nicht laut, nicht klar, eher ein Hauch, getragen vom Nebel:
„Sohn des Windes… die Steppe verengt sich. Unsere Zeit rinnt wie Sand. Folge dem Klang der Steine. Folge dem Kreis… nach Westen.“
Tharons Herz schlug wie ein Trommelschlag.
Der Westen.
Dort lagen die alten Wälder.
Dort war der Ort, den die Zentauren einst Brüder nannten.
Dort waren… Antworten.
Doch er wusste auch: Dort regte sich etwas Dunkles. Etwas, das selbst die Steppe fürchtete.
Der Nebel löste sich, die Schatten verschwanden, und der Steinkreis wurde wieder still. Nur die Rune glimmte noch schwach nach, wie ein letzter Funke Hoffnung.
Tharon legte die Hand auf seine Brust, spürte den alten Schmuck aus Federn und Knochen.
„Vater,“ flüsterte er. „Ihr habt mich gerufen. Ich folge.“
Dann hob er die Lanze, warf den Kopf in den Wind und stieß ein Ruf in die Steppe – tief, mächtig, uralt. Ein Ruf, der einst das Herz jeder Herde zum Beben brachte.
Der Wind antwortete.
Und in seiner Antwort lag ein Weg.
Tharon setzte sich in Bewegung.
Nach Westen.
Dem Kreis folgend.
Der Geschichte folgend.
Seinem Volk folgend.
Die Silhouette des Zentauren verschwand im Morgennebel, und die Steppe hielt den Atem an. Denn sie wusste:
Tharon war nicht nur auf einer Reise. Er war erwacht.
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